Harte Fakten
Titel | Liebesfluchten |
Autor | Bernhard Schlink |
Erscheinungsjahr | 2000 |
Seitenzahl | 304 |
Dauer Hörbuch | 9 Std 12 Minuten |
Sprecher | Charles Brauer |
Anzahl Geschichten | 7 |
Inhalt: Kurzgeschichten rund um die Flucht vor und in die Liebe
Bisher kannte ich von Schlink nur den "Vorleser", also sein berühmtestes Buch (sowohl Film als auch Buch). Nun habe ich mich mal an seine Kurzgeschichten gewagt.
Nach dem Lesen der ersten beiden Geschichten dachte ich: Der ist doch sicher Jurist, oder? Und ja, laut wikipedia ist/war er das in der Tat. Soviel zu: Schreib, womit du dich auskennst.
Fazit für Schnelle
Ganz deutlich und mit großem Abstand hat mir "der Andere" gefallen. Diese Geschichte hatte auch die sympathischesten Figuren. Vom Plot her fand ich "Zuckererbsen" ebenfalls aufregend, kann aber nicht sagen, dass ich die Hauptfigur oder irgendjemanden sonst in der Geschichte besonders mochte.
Bedrückend und einleuchtend fand ich den Konflikt in "Die Beschneidung" und konnte hier auch beide Seiten zum größten Teil nachvollziehen. Insgesamt ein lesenswerter (oder hörenswerter) Band.
Das Mädchen und die Eidechse
2019 habe ich von Donna Tartt "Der Distelfink" gelesen und obwohl der Plot sich doch deutlich unterscheidet und der Distelfink auch alles andere als kurz ist, hat es mich sehr daran erinnert.
Auch hier hat ein Junge / junger Mann ein wertvolles Gemälde, das er vor anderen versteckt. Zudem ist diese Geschichte für eine Kurzgeschichte eher lang und nimmt sich Zeit, fast mehr Zeit als der Distelfink, natürlich passiert aber auch viel weniger. Die Nazi-Zeit ist nicht allzu weit entfernt, der Vater des Protagonisten hat sie noch als junger Erwachsener mitbekommen und der Künstler des Gemäldes musste damals fliehen.
Gegen Ende hin wirkt der Besitz fast belastend, vor allem, weil er das Gemälde stets vor seinen Frauen geheimhalten muss.
Der Schluss ist drastisch, mit einer schönen Pointe. Ich bin unsicher, ob mir die Geschichte in der Gänze gefällt, sie hat aber definitiv ihre Momente. Vom Stil her ist es nicht das, was ich normalerweise lese und ist auch sehr langsam vorgelesen, was mich zwingt, mich mal auf eine andere Geschwindigkeit als die bei mir übliche einzulassen.
Obwohl es eine reale Inspiration dazu gibt (Das Mädchen mit der Eidechse von Ernst Stückelberg), ist hier das Gemälde in der Geschichte und der dazugehörige Maler René Dalmann fiktiv.
Der Seitensprung
Berlin, bevor die Mauer fiel. Wie war das eigentlich damals, wenn man als Wessi ein und ausgehen durfte und Freundschaften pflegen konnte. Wie war das für die Ossis?
Und danach, als die Mauer dann weg war, wie hat sich das Verhältnis dann verändert?
Die Story hat für mich mehr Substanz, mehr greifbare Szenen und mehr Leben als die vorherige und ist in der Geschwindigkeit nicht mehr ganz so vorsichtig.
Schlink nutzt das Potenzial dieser Story total aus, Stasi-Spitzeleien werden beleuchtet, die Motive hierfür, ob edel oder eigennützig und schwierige Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Insofern erinnert diese Geschichte an die vorherige: Im NS-Reich und in der DDR galten andere Regeln, damals legal und vielleicht sogar überlebenswichtig, aber aus menschlicher Sicht unmoralisch. Dies war auch schon ein Thema seines Bestsellers der Vorleser.
Der Andere
Vielleicht habe ich mich warmgelesen und an seinen Stil gewöhnt, vielleicht läuft er aber auch jetzt erst zur großer Fahrt auf. Die beiden Hauptakteure sind trotz all ihrer Mängel und Verfehlungen so liebenswert, dass ich mich am liebsten zu ihnen ins Café setzen möchte. Die Idee ist angenehm und originell und dennoch einfach, dass ich nicht anders kann als sie zu genießen. Nach dem Hören dieser Geschichte, bei der mir an einer Stelle sogar die Tränen kamen, muss ich erstmal pausieren und sie nachwirken lassen.
Die Frau des Protagonisten, Lisa, ist tot. Krebs. Dann erhält sie plötzlich einen Brief von einem abgelegten Liebhaber, von dem der Ehemann nichts wusste. Der Liebhaber ahnt nichts von Lisas Tod. Es kommt zu einer Korrespondenz.
Mit einigen Umwegen, allesamt gut nachvollziehbar und glaubwürdig, wird Frieden geschlossen. Frieden, vermutlich mit sich selber, dem Leben und der Welt. Eine perfekte Geschichte.
Spannend außerdem: Die Geschichte ist zeitlos und ortlos. Sie kann zu jeder Zeit der letzten hundert Jahre ungefähr so passiert sein und das gilt vielleicht auch für die nächsten hundert (so lange es noch Briefpost gibt). Sie ist - ganz im Gegensatz zu einigen anderen Geschichten dieses Bandes - nicht mit der deutschen Geschichte verflochten.
Übrigens: Richard Eyre verfilmte diese Kurzgeschichte mit Liam Neeson, Antonio Banderas und Laura Linney.
Zuckererbsen
Der Polygamist wäre ebenfalls ein möglicher Titel gewesen. Auf absolut nachvollziehbare und sympathisch ehrliche Weise wird der Protagonist, der Brückenbauer und Maler Thomas, zum dreifachen Polygamisten. In Berlin Ehefrau und drei Kinder. In Hamburg eine weitere Frau mit einer kleinen Tochter. Eine junge Geliebte in Berlin. Nun ist er Ende 40 und wünscht sich Ruhe. Denn seine Zeit reicht für drei Leben natürlich nicht aus.
Unsympathisch wird er mir erst mit einem späteren, recht krassen Schritt, den ich ihm aber seltsamerweise auch wieder verzeihe, als ich sein weiteres Schicksal verfolge. Der Plot verläuft dann deutlich ungewöhnlicher und spannender als bei den vorherigen Geschichten und läuft auf ein fulminanten Finale hinaus.
Die Beschneidung
Mitte der Neunziger: Ein deutscher Mann in New York, verliebt in eine jüdische Amerikanerin. Zunächst bin ich irritiert. An einer Stelle geht er mit der Schwester seiner Freundin spazieren und fragt sie, was das Schlimmste sei, das ihren Söhnen passieren könnte. Dass sie eine nichtjüdische Frau heiraten, antwortet sie. Ich hatte eher an Tod und Folter gedacht. Aber natürlich ist Tod und Folter deutlich unwahrscheinlicher und es lohnt nicht, davor Angst zu haben. Mischehen sind doch wahrscheinlicher und daher ist ihre Sorge vermutlich berechtigt. Dass sie ihm das so sagt, ist aber schon für ihn nicht angenehm, schließlich ist er Nichtjude. Auch wenn es andersherum weniger schlimm ist, weil ja die Mutter die jüdische Kultur weiterträgt, nicht der Vater.
Später im Text fühle ich mich ertappt. Da geht es um die deutsche Sprache. "Keine jüdische Hast" habe ich in diesem Leben genau einmal jemanden sagen hören und dieser Mann ist heute 97 Jahre alt. Dass wir etwas "bis zur Vergasung" machen, habe ich deutlich häufiger gehört.
Die Beziehung beginnt recht schnell darunter zu leiden, dass sie aus verschiedenen Kulturen und Hintergründen stammen. Die Geschichte nimmt hier eher die Perspektive des deutschen Mannes ein.
Dabei wird aber nicht verurteilt, sondern eher nur aufgezeigt, wie er sich dabei fühlt und was er dagegen unternimmt. Was er dagegen unternimmt, finde ich persönlich eher seltsam, für ihn ist das
total logisch.
Daraufhin stellt er fest, was ich vorher bereits vermutet hatte und er eigentlich auch: Er wird nicht gesehen.
Nun, das war Mitte der Neunziger, ob es heute wohl noch genauso wäre? Ich kann die Frage nicht beantworten.
Der Sohn
Das war für mich persönlich jene Geschichte, mit der ich am wenigsten anfangen konnte. Ein Mann bereut, nicht mehr mit seinem Sohn geteilt zu haben. Dazu ein schwer zu verdauendes Setting, das sein Leben in Gefahr bringt. Einiges war auch sehr echt und gut beobachtet, wie das Telefonat mit seinem Sohn, oder dass er von ihm kein Foto in der Brieftasche hat.
Die Frau an der Tankstelle
Der Protagonist träumt schon seitdem er ein junger Mann war von der Frau an der Tankstelle. Der Traum wandelt sich kaum, erst wird sie mit ihm älter, bleibt aber bei ca. 40 stehen, auch als er deutlich älter wird.
Seine Ehe ist nach 25 Jahren ermüdet, nur langsam kommt sie wieder in Fahrt. Reisen gemeinsam. Schließlich trifft er die Frau an der Tankstelle im realen Leben, mitten im Nirgendwo. Er weiß, er muss sich schnell entscheiden. Der Schlusssatz hat mir sehr gut gefallen.
Sprecher Charles Brauer
Anfänglich hat er schon extrem langsam gelesen. Mit der Zeit habe ich die Ruhe zu schätzen gelernt, das gilt wohl sowohl für das langsame Vorlesen als auch für Schlinks Geschwindigkeit im Allgemeinen. Ich hatte damals "Der Vorleser" auch als Hörbuch sehr genossen, da war es ähnlich (wenn auch ein anderer Sprecher).
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