Harte Fakten
Titel | The Paper Menagerie and other stories |
Autor | Ken Liu |
Erscheinungsjahr | 2016 |
Seitenzahl | 464 |
Anzahl Kurzgeschichten | 15 |
Inhalt: Ist mein Leserinnenleben nicht schön?
Fazit für Eilige
Ken Lius Kurzgeschichte in der phantastisch! Nr. 79 war die beste, die ich seit langem oder jemals gelesen habe. So schön, tragisch, irgendwie lebensbejahend, phantasievoll, aber nicht zu viel auf so engem Raum.
Nicht alle Stories haben eine phantastische oder SF-Komponente und diese steht beileibe auch nicht im Vordergrund. Im Vordergrund stehen die Menschen und ihre Beziehungen und Erlebnisse.
Liu hat es auch definitiv drauf, sich in sowohl der chinesischen als auch in der amerikanischen Kultur zu bewegen und vor allem in dem riesengroßen Bereich jener, die genau dazwischen sind. Einen Hauch Japan gibt es gegen Ende des Bandes ebenfalls.
Jemand schrieb kürzlich auf Twitter zu Liu, dass er selten eine so hohe Dichte von sehr guten Stories in einer Sammlung gefunden hat und dass er das Buch regelmäßig verschenkt. Ich kann nur zustimmen, die Sammlung ist der Wahnsinn. Liu hat das Zeug zu meinem neuen Lieblingsautor. Die nächste Sammlung, "Hidden Girl", habe ich bereits gekauft.
Inzwischen (Stand August 2021) habe ich eine andere, ebenfalls sehr ausführliche Rezension gefunden. Im Scifinet aktiv zu sein lohnt sich.
The Bookmaking Habits of Select Species
Obwohl alle verschiedenen Auslegungen des Lesens der verschiedenen Völker höchst phantasievoll und gut beschrieben waren, ist das doch irgendwie keine Geschichte. Tatsächlich nur eine Beschreibung, wie man sie in einem Buch lesen würde, das eben die unterschiedlichen Lesegewohnheiten dieser fremden Völker beschreibt. Sehr interessante Ideen, toller Weltenbau, welch Phantasie! Eben ohne Spannungsbogen.
Das ist natürlich Absicht. Im Interview von Christian Endres mit dem Autor in der phantastisch Ausgabe 79 auf Seite 39 heißt es: "Ich habe Geschichten ohne Handlung oder Figuren oder irgendein anderes Element geschreiben, das für Fiction als essenziell erachtet wird. Durch ihre Natur verlang die kurze Form weniger Aufmerksamkeit und Zeit vom Leser und sie erlaubt es dem Autor. Experimente umzusetzen, die ihre freundliche Aufnahme überstrapazieren würde, würden sie in der Länge eines Romans durchgeführt werden."
Der Mann weiß also was er macht. Und ja, für eine Kurzgeschichte finde ich das tatsächlich auch ganz interessant.
State Change
Da frage ich mich ja wirklich manchmal wo der Mann seine Ideen herbekommt. Jeder Mensch wird mit einer Seele geboren, die ein beliebiges Objekt sein kann. Von der Seele darf man sich nicht allzu weit entfernen, sonst stirbt man. Bei der Protagonistin Rina ist es ein Eiswürfel. Upps. High Maintenance. Das lässt sich natürlich weniger leicht mit sich herumtragen. Wenn er taut, taut er. Ist er eines Tages aufgetaut, so ist das ihr Ende, glaubt Rina. Dies hat entsprechend Auswirkungen auf ihre Persönlichkeit. Sehr schöner Plot. Toller Schluss. Begeisterung.
Außerdem ist der erste Satz einfach toll: "Every night, before going to bed, Rina checked the refrigerators."
The perfect Match
Tilly ist eine KI, viel extremer als Alexa und hinter ihr steht der mächtige Konzern Centillion. Protagonist Say macht ohne Tilly keinen Schritt. Den Knopf immer im Ohr, das Handy immer dabei, sie weckt ihn, wählt seine Dates aus, seine Restaurants, sammelt Daten, um ihn perfekt beraten zu können.
Aber: Errät sie seine Wünsche oder flüstert sie ihm diese ein?
Wie weit kann man gehen, um Geld zu verdienen? Und was kostet eine die bequeme Lebensweise a la "Share-it-all"?
Nachbarin Jenny ist in China aufgewachsen und sieht das kritisch. Sie versucht an Say heranzukommen, ohne dass Tilly/Centillion das mitbekommt.
Schön zu Ende gedacht, aber mir kommt es so vor, als hätte ich derartiges schon öfter gelesen, gesehen oder gehört.
Mich stört die allzu schnelle Wandlung Says: Am Morgen findet er Tillys Unterstützung noch perfekt, am nächsten Abend schon schmiedet er einen Komplott gegen sie? Das hätte mehr Zeit und Überzeugung sowie zusätzliche Informationen gebraucht.
Mit Action und Spannung hat es die Story auch nicht unbedingt. Dabei hätte das Thema einiges an spannenden Szenen hergegeben, dazu hätte sie natürlich auch deutlich länger sein müssen.
Der Schluss versöhnt mich mit allem, was ich vorher hätte bemängeln können. Überraschend und überzeugend, das muss man erst einmal hinkriegen. Und (leider?) glaube ich ihm jedes Wort.
Good Hunting
Hier nehme ich das mit der fehlenden Action auch zurück. Diese Kurzgeschichte unterscheidet sich sehr von den anderen, eben indem es Jagd, verbotene Liebe und Fantasy-Action gibt. Hätte ich diese gelesen, ohne zu wissen, dass die von Liu ist, ich wäre nicht drauf gekommen.
Es geht um einen Jäger, der lernt, das die, die er jagt, nicht so sind wie er angenommen hat. Jedenfalls nicht alle. Dann geht es um das Verschwinden der Magie und das Voranschreiten der Technik.
Im Mittelteil hätte er mich fast verloren, dann kommt aber auf den letzten Seiten so dermaßen Fahrt auf, dass ich beeindruckt bin. Transhumanismus in einer Form, auf die ich nicht gekommen wäre und die womöglich als Idee sogar ganz neu ist. Ein Must-Read.
Das ist übrigens verfilmt worden. Es ist eine Folge bei der Netflix-Serie "Love, Death + Robots". Die Serie ist ab 18, dementsprechend geht der Ständer bis zum Bauchnabel (in der Kurzgeschichte war Sex eher nur ein Nebensatz) und Köpfe fliegen einem mit viel Blut genau vor die Füße (Gewalt war ebenso nur ein Nebensatz in der Kurzgeschichte). Ich hatte beim Lesen andere Prioritäten gesetzt. Der Wechsel von der magischen Welt hin zur stark technisierten Welt kam in der Verfilmung aber sehr gut rüber, eine sehr chinesische Athmosphäre würde geschaffen und die Schlusspointe war optisch und erzählerisch schön umgesetzt. Ich würde empfehlen, die Kurzgeschichte vorher zu lesen. Sonst könnte man einen schrägen Eindruck vom Autor bekommen. :-)
The Literomancer
Diese Geschichte kommt bis auf ein winziges Detail ganz ohne Phantastik aus.
1961. Lilly zieht mit ihrer Familie von Texas nach Taiwan, ihr Vater wurde versetzt. Über seine Arbeit darf er nicht sprechen. So viel Historie und Politik sowie Geheimdienst sowie Beliebtheitsprobleme in der Schule und der Wechsel der Kultur hatte ich bisher von Liu noch nicht gelesen. Die Geschichte ist total spannend, an einigen Punkten ahne ich schreckliche Plotwenden voraus und so kommt es dann auch. Die Geschichte ist weniger unvorhersehbar als seine anderen Kurzgeschichte, was sie aber keineswegs weniger spannend macht. Darüber hinaus habe ich das Gefühl, gewaltig etwas dazu gelernt zu haben.
Ein Literomancer ist übrigens jemand, der anhand von Schriftzeichen die Zukunft vorhersagt.
Simulacrum
Obwohl die Idee der Simulacron sehr schön ist, steht sie dennoch nicht im Vordergrund. Ich habe das als eine Geschichte von Beziehungen verstanden, allen voran Vater und Tochter mit einem Schuss Vater-Mutter und Mutter-Tochter dazu.
Simulacrums sind mehr als nur ein Video, es ist eine Art Momentaufnahme der Persönlichkeit, mit der man circa zwei Stunden lang interagieren kann. Wenn ich also ein Simulacron von meiner fast fünfjährigen Tochter machen würde, hätte ich auch in Jahren und Jahrzehnten die Möglichkeit, wieder mit ihr zu sprechen, so wie sie am heutigen Tag drauf wäre. Auch meine Tochter selber könnte natürlich mit ihr sprechen und so weiter. Eine sehr interessante Idee.
Die Geschichte ist spannend, die Pointe beeindruckend. Da steckt einiges dahinter.
The Regular
Ein Science Fiction Krimi! Die ehemalige Polizeibeamtin Ruth ist nun Privatdetektivin. Eine Frau bittet sie, den Mord an ihrer Tochter aufzuklären. Diese arbeitete als Edel-Eskortdame und wurde vermeintlich von einer Gang ermordet. Zunächst möchte Ruth ablehnen, dann aber bietet ihr die Frau viel Geld an. Außerdem hätte Ruth auch eigene Gründe, so einer Frau zu helfen, jedoch gibt es in jener Welt eine Besonderheit: Man kann seinen Körpern "Enhancements" einbauen. Einer dieser möglichen Enhancements ist der "Regulator", der Gefühle so steuert, wie man es gerade möchte. Adrenalin, wenn man es braucht, keine Trauer oder keine Wut, wenn es gerade ungünstig ist. Polizist*innen haben das serienmäßig eingebaut, dürfen es aber nur 1-2 Stunden am Tag nutzen. Ruth hat ihren Regulator so modifizieren lassen, dass er bis zu 23 Stunden am Stück laufen kann.
Ruth hat eine Vergangenheit, die sehr lesenswert ist und geschickt eingebaut wird, der Kriminalfall ist spannend, ihre Herangehensweise ebenfalls. Wir Leser*innen wissen ein wenig mehr als sie, da wir in Unterkapiteln die Perspektive des Mörders annehmen.
Rundum gelungen, daraus hätte man auch einen kleinen Roman machen können!
The Paper Menagerie
Da diese Geschichte der Anthologie den Titel gab, hatte ich natürlich etwas besonderes erwartet. Die Story ist überraschend kurz, kürzer als die meisten. Im Vordergrund steht eher die Identität des anfänglich noch sehr jungen Protagonisten Jack. Sein Vater ist Amerikaner, seine Mutter Chinesin und sie wurde von seinem Vater gekauft, als sie 18 war. Ich habe als Leserin das Gefühl, das zwischen diesen beiden Liebe ist, völlig gleichgültig wo und wie sie sich kennengelernt haben. Seine Mutter beherrscht Origami, sie faltet aus altem Geschenkpapier Tiere für ihren Sohn und haucht diesen Leben ein. Das ist sehr bildhaft beschrieben und der beste Teil der Story. Die Tiere haben nämlich durchaus einen Willen, so möchte der Hai beispielsweise lieber im Wasser leben, was für einen Hai aus Papier nicht so günstig ist.
Dann kommt es zur verständlichen, aber traurigen Wendung, dass Jack das Chinesische der Mutter ablehnt und möglichst amerikanisch leben will. Nach einigen Wendungen und vielen Informationen, mit denen ich nicht gerechnet habe ist der Schluss versöhnlich.
An Advanced Readers' Picture Book of Comparative Cognition
Konflikt: Die Mutter möchte ins All, um Kommunikation mit anderen Lebensformen zu ermöglichen. Sie möchte ihren Mann (Ich-Erzähler) und die Tochter (ihr wird erzählt) mitnehmen. Das möchte der aber gar nicht und die Tochter ist zu jung, das zu entscheiden. Es gibt verschiedene Arten von Liebe.
The Waves
Hier ist der Konflikt sogar noch eine Spur krasser. Die beiden Protagonisten, ein Paar mit zwei Kindern, gehören zu den 300 Besatzungsmitgliedern eines riesigen Raumschiffs, das unterwegs ist zu einem anderen bewohnbaren Planten, um diesen zu kolonialisieren. Aber erst ihre Enkel werden dort ankommen. Dann erreicht sie eine Nachricht von der Erde: Es ist nun möglich, den Menschen mittels eines Virus unsterblich zu machen. Auch die Besatzung des Schiffs könnte das Verfahren anwenden. Allerdings sind die Ressourcen knapp kalkuliert. Es gibt zwei Optionen: Entweder auf die Unsterblichkeit verzichten und die Kinder aufwachsen lassen, oder die Kinder für immer Kinder sein zu lassen, bevor sie aufwachsen und mehr Ressourcen verbrauchen als das Schiff bietet.
Ich frage mich sogar, ob das nicht der interessanteste Konflikt ist, über den ich je in einer Geschichte gestolpert bin. Die Lösung und die Weiterentwicklung des Plots haben meine Erwartungen stark übertroffen.
Mono No Aware
Ein Asteroid wird die Erde zerstören. Da genügend Vorlaufzeit besteht, können Raumschiffe gebaut werden, um die Menschen zu retten. Zumindest Japan hatte vor, die gesamte Bevölkerung zu retten. Der Protagonist, ein Junge, macht sich mit seinen Eltern und Nachbarn auf den Weg.
Abwechselnd wird von damals erzählt und vom Protagonisten, als er bereits 25 ist, längst auf diesem Schiff im Weltraum lebt und mit einer Frau fest liiert ist. Man ahnt schon, dass es damals nicht ganz so gelaufen ist, wie alle gehofft hatten.
Eine Geschichte über Tapferkeit und Verzicht, bei der es den Anschein macht, als seien diese beiden Dinge eng miteinander verwandt.
All the Flavors
Herrlich. Ähnlich wie bei "The Literomancer" ist die Protagonistin ein amerikanisches Mädchen, das sich mit einem älteren chinesischen Mann anfreundet. Diesmal nicht auf chinesischem, sondern auf amerikanischem Boden, in Idaho, Ende des 19. Jahrhunderts. All the Flavors bezieht sich auf das ungewohnte chinesische Essen, aber das ist nur der vordergründige Grund für den Titel. Es ist spannend, weder SF noch Phantastik. Eine Geschichte, die mehr als die anderen in diesem Band Rassismus gegen Chinesen berührt, auf der anderen Seite hohe Aufgeschlossenheit gegenüber neuem und anderem. Dies ist eine der längeren Geschichten in der Sammlung. Sie hat einen sehr interessanten historischen Hintergrund. Gegen 1870 war der chinesische Anteil der Bevölkerung in Idaho sehr hoch, bei einem Viertel. Da damals aber die Ehefrauen nicht mitgebracht werden durften und Ehen zwischen Chinesen und Amerikanerinnen nicht erlaubt waren, sank der Anteil auch rasch wieder, als die Männer alt wurden und starben.
A Brief History of the Trans-Pacific Tunnel
Paralelluniversum. Ende der 20er weicht die Geschichte von unserer ab. Den großen Krieg hat es gegeben (niemand muss ihn den ersten Weltkrieg nennen, da es keinen zweiten gab). Nordamerika, Japan und China beschließen, unter dem Pazifik einen Tunnel zu bauen mit drei Stopps: Seattle, Tokyo, Shanghai.
Der Protagonist gehörte damals zu denen, die den Tunnel bauten, später war er Vorarbeiter und Aufseher. Später, als keine Freiwilligen mehr kamen und man Gefängnisinsassen zur Arbeit zwang. Heftige Story, sehr gute Idee.
The Ligitation Master and the Monkey King
Diese Geschichte geht ca. 200 Jahre in die Vergangenheit und beleuchtet einen Teil authentischer chinesischer Geschichte, wenn auch mit fiktiven Figuren und einem phantastischen Aspekt, dem Monkey King, mit dem Tian, der Protagonist, in seinem Kopf sprechen kann. Die Folterszenen sind heftig, aber da der Autor sich mit detaillierten Beschreibungen zurückhält, aushaltbar. Der Plot ist intelligent und das Ende sehr gelungen.
The Man Who Ended History: A Documentary
Man kann in die Vergangenheit reisen - aber an jeden Punkt nur einmal. Man kann nur beobachten, kann also keinen Einfluss nehmen. Sehr interessant für Historiker*innen, aber auch für jene, die Familiengeschichten aufklären wollen. Wie die Protagonistin hier, die herausfinden möchte, was mit der älteren Schwester ihres Vaters passiert ist. Ein sehr dunkles Kapitel der japanisch-chinesischen Geschichte, so dunkel, dass mir auf diesem Niveau eigentlich nur noch Josef Mengele einfällt. Gut, dass es die letzte Geschichte in dem Band ist. Ich habe ernsthaft erwogen, die Lektüre abzubrechen. Aber nach mehr als 300 Seiten der besten Kurzgeschichten, die ich je gelesen habe, vertraue ich dem Autor und halte durch.
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