Harte Fakten
Titel | Frankenstein |
Autorin | Mary Shelley |
Erscheinungsjahr | 1818 |
Anzahl Stunden Hörbuch | 7:45 |
Einstein: Lest mehr Klassiker
Einstein soll gesagt haben, dass wir mehr Klassiker lesen sollten. Wer nur zeitgenössisches Zeug liest, ist in den Vorturteilen seiner Zeit gefangen.
Ich habe mit Frankenstein begonnen. Mit Begeisterung, die ich nicht für möglich gehalten habe.
Mary Shelleys Frankenstein
Als ersten Klassiker nahm ich mir im Juni 2020 Frankenstein vor. Dieser Roman wird am häufigsten erwähnt, als es um frühe Science Fiction geht. Von 1818, also inzwischen mehr als 202 Jahre alt, da wird ja wohl ein Klassiker sein. Daher gebe ich mir hier auch keine Mühe, nicht zu spoilern. Ich muss allerdings sagen, dass alles, was ich von der Geschichte vorher wusste, folgendes war:
- Viktor Frankenstein erschafft ein Monster
- Das sieht so Munster-Family-mäßig aus und hat überall sichtbare Nähte
- Irgendwas davon spielt in Russland
- Frankensteins Monster ist eine missverstandene Kreatur
Ich besorgte mir das Hörbuch. So konnte ich beim Joggen, Spazieren, Baby-ins-Bett-bringen hören. Trotzdem brauchte ich für die knapp acht Stunden eine ganze Woche.
Anfänglich war ich verwirrt. Hatte ich das falsche Hörbuch gekauft? Ich hörte dem Kapitän Walton zu, der seiner Schwester Briefe schrieb und der keinesfalls mit Viktor Frankenstein unterschrieb. Ich konnte auch nicht nachschauen, da es dunkel war und das Baby endlich einschlafen sollte. Also höre ich weiter zu und bald schon hatten Frankensteins Monster und, wie ich vermutete, Frankenstein selber ihre Auftritte. Wenn man schon weiß, wie der Erschaffer des Monsters heißt, ist es fast noch spannender, da es sicher locker zwei Stunden dauert, bis Frankensteins Namen zum ersten Mal fällt.
Die Erzählung hat auch vier Ich-Erzähler*innen, diese sind sehr verschachtelt.
Der Kapitän Walton schreibt seiner Schwester Briefe, der dritte (oder vierte?) Brief ist dann sehr lang, da er Viktor Frankensteins gesamte Geschichte enthält, die nicht unterbrochen wird und den Hauptteil des Buchs ausmacht. Frankenstein erhält einen längeren Brief von seiner Kusine/Verlobten, der lang genug ist, dass sie zumindest kurzzeitig ebenfalls als Ich-Erzählerin durchgehen kann. Später erzählt Frankensteins Monster seinem Schöpfer, wie seine letzten beiden Jahre zugegangen waren, was das Monster ebenfalls zu einem Ich-Erzähler in dem Buch macht.
Die Geschichte war von Anfang an spannend - oder jedenfalls fast von Anfang an. Bei Sol Stein hatte ich gelesen, dass vor der Erfindung des Fernsehens in Romanen Dinge auch gern mal narrativ zusammengefasst wurden, anstatt dass alles unmittelbar in erlebbaren Szenen passiert. Das stimmt auch, wenn auch nur zum Teil. Hier und da wird mal eine Nebenhandlung erzählt, aber auch die Zusammenfassungen lesen sich sehr spannend. Alles Wichtige ist sowieso szenisch erzählt und mit viel Dialog, Reflektion und spannenden Beschreibungen.
Die spannendste Szene, die ich in meinem Leben gelesen, gehört oder gesehen habe, habe ich überhaupt in Frankenstein entdeckt:
Frankensteins Monster beobachtet seit etwa einem Jahr eine Familie in einer Hütte. Unbemerkt von ihnen hat er es sich in deren unbenutzten Scheune gemütlich gemacht. Er hilft ihnen beim Holz sammeln, ohne dass er sich je zu erkennen gegeben hat, denn er weiß inzwischen aus Erfahrung, dass Menschen bei seinem Anblick in Furcht und Grauen verfallen und vor ihm weglaufen oder versuchen ihm etwas anzutun. Doch sehnt er sich nach Gesellschaft und leidet sehr unter seiner Einsamkeit (so plump ist in dem Buch übrigens nie etwas zusammengefasst). Er kann lesen und sprechen, da der männliche Bewohner der Hütte seiner türkischen Frau französisch sprechen und lesen beigebracht hat und das Monster sie dabei beobachtet und mitgelernt hat.
Der Vater der Familie ist blind. Nach vielem Nachdenken fasst das Monster den Plan, diesen Mann für sich zu gewinnen, er kann ihn ja nicht sehen und erschrecken. Die Szene, in der das Monster mit dem blinden Vater spricht und schließlich unter Zeitdruck gerät, weil er den Rest der Familie sich wieder nähern hört, ist jene spannendste Szene. Ich war so gebannt, dass ich beim Joggen noch eine Extrarunde gelaufen bin, damit ich sie nicht unterbrechen musste.
Nach dem Teil, in dem Frankensteins Monster seine Geschichte erzählt, wird es kurz weniger spannend. Einige Dinge waren für mich vorhersehbar, obwohl ich die Geschichte nicht kannte, so zum Beispiel wen Frankensteins Monster ermordete. Zum Schluss nahm das Tempo dafür wieder sehr zu.
Der Roman mag 202 Jahre alt sein, trotzdem wusste ich nicht, wie er ausgehen würde. Ich wusste nicht, stirbt Frankenstein? Sein Monster? Beide? Welch ein Glücksfall, so konnte ich den Roman tatsächlich genießen, ohne jedes Vorwissen.
Frankenstein ist völlig zu Recht ein Klassiker und wird uns sicher noch ein paar hundert Jahre länger fesseln. Oder auch sehr viel länger. Trotz des Settings ist er zeitlos und nur sehr selten habe ich das Gefühl, er ist überholt. So zum Beispiel an der Stelle, als Viktor Frankenstein von Genf nach Ingolstadt zieht, um andere Kulturen kennenzulernen. Wow, von der französischen Schweiz nach Bayern. 700 km. Da musste ich schmunzeln. Sicher, damals war die Welt noch kleiner.
Schön fand ich auch, dass vieles nur angedeutet wurde. So wird die Elektrizität eines Blitzes zu Beginn der Geschichte erwähnt, aber nie wird genau gesagt, wie Frankenstein seine Schöpfung zum Leben erweckte. Auch wird nicht gesagt, aus welchem Material genau er gebaut wurde. Von Leichenteilen ist nicht direkt die Rede, vieles bleibt subtil im Ungewissen.
Es gibt Deutungen der Geschichte, die Frankensteins Monster als Teil von Frankensteins Persönlichkeit ansehen. Daher gibt es neben der offensichtlichen (er hat tatsächlich ein intelligentes Geschöpf erschaffen) noch eine andere Deutungsmöglichkeit, was ebenfalls einen Reiz des Romans ausmacht. Mehr davon in dem unten verlinkten Podcast.
Ich kann Frankenstein nur weiterempfehlen, egal ob man den Inhalt schon kennt oder nicht. Es sind nur acht Stunden und es macht sehr viel Spaß und ist extrem gut geschrieben. Wo auch immer die Autor*innen damals das Können her hatten, als es noch keine Schreibwerkstätten gab - einige waren vielleicht einfach genial oder hatten es im Gefühl.
Kommentar schreiben